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  • Susanne Altoè

In guten Händen

Rasselnd geht der Atem von Herrn Ingmar. Aufrecht sitzt er im Bett. Fenster und Türe seines Zimmers sind weit geöffnet, das gebe ihm ein wenig Erleichterung, heisste es. Immer wieder versucht er, zwischen Atemnot und Hustenanfällen ein paar Worte herauszupressen, doch die Anstrengung macht alles schlimmer. "Es geht nicht mehr", sagt er erschöpft, und sinkt zurück in sein Kissen.

"Soll ich einen Moment still da bleiben?", frage ich, als sein Atem ein wenig ruhiger geht, und er nickt.

Er wirke sehr gequält, weit über die Atemnot und den Schmerz hinaus, der ihm der Krebs bereitet, hat man mir gesagt, vielleicht könne die Seelsorge ihm noch etwas gutes tun. Es sei nicht einfach, loszulassen, ein schweres Schicksal für den noch nicht alten Vater, dem Tod ins Auge zu blicken und Frau und Kinder zurücklassen zu müssen, die vor wenigen Jahren schon der tragischen Suizid des jünsten Bruders getroffen hatte...

"Denken Sie an Ihre Familie?" frage ich, und Herr Ingmar nickt. Sofort spannt er sich wieder stärker an und gerät in die nächste Atemnot. Seine Augen sind ein stummer Schrei, sein Blick dringt mir durch Mark und Bein. Es sei ein Tabu, der Tod des Sohnes, vermutete die Pflege, er sei wohl nie ein Mann vieler Worte gewesen, und mit den Gefühlen sei es viellcht ähnlich gewesen.

Nun liegt er da, Herr Ingmar, er scheint so vieles sagen zu wollen, aber es ist zu spät. Er ringt um jede Silbe und wirkt, als ob er jetzt bereit wäre alles auszusprechen, was ihn belastet, wenn es denn nur ginge.

"Da wäre noch so viel zu sagen?" Er nickt. "Der Schmerz um Ihren Sohn, die Sorge um ihre Familie, wie sie mit diesem neuen Verlust umgehen werden, wenn Sie gehen müssen?" Er nickt und keucht und Tränen steigen ihm in die Augen. "Ja." Mit wenigen Worten spricht er vom unaussprechlichen. Vom Schmerz, der keine Worte kennt, und von der Hoffnung, der einzigen, seinen Sohn wieder zu sehen, "drüben", und dem Trost, der das für seine Lieben ist.

"Manchmal gibt es einfach keine Worte mehr. Manchmal kann man es nur noch hinlegen und hoffen, dass Ein Anderer vollendet, was wir begonnen haben..." "Ja," keucht Herr Ingmar unter Tränen. Ich deute auf das kleine Bild der Gottesmutter auf seinem Nachttisch. "Wissen Sie, was ich am Abend mache, wenn ich keine Worte mehr finde für alles gehörte und all die Menschen des Tages?" Er schüttelt den Kopf. "Ich lege alles wie in eine Schale zu Füssen der Muttergottes auf meinem Kaminsims. Ich weiss, bei ihr ist alles gut aufgehoben, sie bringt alles vor Gott, und Er macht alles gut." Herr Ingmar weint. "Möchten Sie, dass wir das zusammen tun?" "Ja..." Und so taste ich im Gebet nach Worten, um sie der unsagbaren Last Herrn Ingmars zu leihen. "In Deine Hände leg ich voll Vertrauen meinen Geist. Du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott."

Er atmet ruhiger. "Möchten Sie, dass der Priester Sie heute Abend noch besucht und Ihnen die Krankensakramente spendet?" Herr Ingmar nickt. Ich verspreche ihm mein Gebet "Gott hat alles gehört, und unsere gute Mutter wird Ihrer Familie alles ungesagte ins Herz übersetzen zur rechten Zeit, da vertraue ich fest drauf!" Herr Ingmar lächelt. Sein Blick ist hell.

In der Morgendämmerung stirbt Herr Ingmar. Das Fenster steht offen und die Vögel zwitschern, als ich mit den Angehörigen an seinem Bett stehe. So schnell sei es jetzt gegangen, so vieles unabgeschlossen, unausgesprochen. Herr Ingmar liegt da, im Frieden, das gerahmte Bildchen mit der Gottesmutter mit beiden Händen umschlossen. "Er hat mich gebeten, Ihnen etwas auszurichten," sage ich, und blicke auf das Bild. "Alles, was er Ihnen nicht mehr sagen konnte, das hat er wie in eine Schale in ihre Hände gelegt. Sie möge es Ihnen ins Herz übersetzen, wenn die Zeit gekommen ist." Fest halten sich Frau und Kinder in den Armen. Dann löst sich die jüngste Tochter aus der Umarmung. Zart streicht Sie ihrem toten Vater über die Wange, dann über die Hände, dann über das Bild. Ihr Blick streift mich, als sie zurück zur Familie tritt. Ich verabschiede mich still. Es ist alles gesagt. Alles ist in guten Händen.


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