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  • Susanne Altoè

Eine Krone für Berti

Es ist schon später Nachmittag. Die Liste mit den Menschen, die ich heute besuchen sollte, ist noch lang. Ein wenig ist mir bange, denn alle werde ich nicht mehr begrüssen können vor dem Wochenende. Wenn ich nur wüsste, wer jetzt gerade einen Besuch brauchen könnte, ein hörendes Ohr, ein mitfühlendes Herz…!

Ich nehme das Treppenhaus, auf den Lift wartet man einfach zu lange im Moment, ich will ja nur in den 4. Stock. Dort ist ein Name für meine Zuständigkeit angestrichen.

Im Treppensteigen wandern meine Gedanken. «Herein!», ruft eine Frauenstimme, als ich an der Zimmertür des Patienten klopfe. Der Mann im Bett atmet schwer.

Seelsorge brauche sie nicht, sagt die Frau, ihr Mann sei ein Kämpfer! Er sei hier, weil er seine Chemo nicht gut vertrage, aber es werde schon wieder.

Eine Weile erzählt sie von dem langen Kampf gegen die Krankheit, wie schwierig es geworden sei für beide, und von der Angst, dass es kein «nach Hause» mehr gibt für ihren Berti. «Aber nein, das ist dummes Zeug! Wir haben schon viel überstanden, das schaffen wir auch noch…!» Inzwischen sitzen wir am kleinen Tischchen im Patientenzimmer, das zweite Bett ist leer.

Ich höre zu. Wellen meiner Müdigkeit überrollen mich und die vielen Details ihres Erzählens entwischen immer wieder. Mit aller Kraft stemme ich mich dagegen: «Bitte, lieber Gott, lass mich ganz da sein für das, was jetzt wichtig ist, ich schaffe es nicht ohne Dich!»

Da sehe ich plötzlich im Augenwinkel, dass sich etwas verändert beim hageren Mann im Krankenbett. Irgend etwas ist anders an seiner Atmung, etwas stimmt nicht… Ich mache mit der Hand ein Zeichen und sage leise zur Erzählenden: «Ich glaube, wir sollten jetzt rüber gehen zu ihrem Mann…» Nur wenige, Atemzüge sind es, die der Mann noch tut, dann folgt ein tiefes, letztes Ausatmen.

Die Frau scheint im ersten Moment nicht zu begreifen. Sie schüttelt und rüttelt den Mann: «Berti, Berti, wach auf!» Doch Berti wacht nicht auf. Aufgeregt geht sie im Zimmer herum, sucht in der Tasche am Boden und fängt schliesslich an, im Kleiderschrank zu wühlen… Ich weiss nicht, was passiert und stehe wie angewurzelt am Totenbett. «Herr, mach mich schwer wie einen Felsen in diesem Sturm, und wenn es hilft, dann lass sie sich festhalten, wenn sie es braucht.» Einen Moment schliesse ich die Augen und bete.

«Da ist er!» ruft die Frau, und zieht einen Kranz aus Plastik-Eichenlaub aus dem Schrank. Sie stürzt auf ihren Berti zu und versucht, ihm den Kranz auf den Kopf zu setzen. «Du hast gut gekämpft! Du hast gut gekämpft, Berti!» schluchzt sie unter Tränen, als sie die rotweissen Bänder über seine Schultern drapiert. Sie steht neben ihm und hält den Kranz fest, damit er nicht herunterrutscht.

Langsam trete ich neben sie: «Ja, er hat gut gekämpft», sage ich ruhig, «jetzt ist der Kampf vorbei.» Die Frau erstarrt. Dann dreht sie sich zu mir und packt mich mit der ganzen Kraft ihres kleinen Körpers. Es schüttelt und schüttelt, bis ich sie langsam zum Stuhl führen und ihr ein Glas Wasser einschenken kann. «Ich werde jetzt läuten, damit jemand von der Pflege kommt?» «Nein, Sie sind ja da, ich will einen Moment allein sein.» Ich wende mich zur Tür und will hinaus gehen, da sagt Sie: «Nein, bleiben Sie hier, der Himmel hat Sie ja geschickt.» Ich lächle, hilflos und überwältigt von den Ereignissen der letzten halben Stunde.

Eine Weile noch bleibe ich an der Seite der Frau, bis sie sagt: «Jetzt ist gut.» Ich läute, und als die Pflegerin kommt, verabschiede ich mich und trete auf den Gang. Die Gesichter kommen mir fremd vor. «Komisch», denke ich, und schaue mich um. Ich war auf Stockwerk 5 gelandet.

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