«Haben Sie Zeit?» Herr Kersch sitzt im Stübli und winkt mich zu sich. Es ist fast ein Jahr, seit seine Ehefrau nach 67 gemeinsamen Jahren verstorben ist. Heute wirkt Herr Kersch verändert. Keine Tränen, keine Schwere. Unruhig rutscht er auf dem Sessel hin und her. «Ich weiss nicht, ob Sie das verstehen …» sagt er schliesslich. «Ich… ich habe da so ein ganz komisches Gefühl.» Besorgnis steigt in mir auf. Der Tod seiner Frau hatte den Hochbetagten in tiefe Trauer und Sinnlosigkeit gestürzt, und manchmal war es mir gewesen, als hätte der Lebensmut ihn ganz verlassen. Spürte er etwa selbst «Bruder Tod» anklopfen?
«Wissen Sie, da ist doch vor ein paar Wochen Frau Liewen ins freie Zimmer vorne rechts eingezogen.» - «Macht Ihnen etwas Sorgen diesbezüglich?» Ich denke an die Spannungen, die manchmal in der unfreiwilligen Lebensgemeinschaft im Heim entstehen. «Nicht direkt», sagt Herr Kersch. Steigt ihm da tatsächlich eine leichte Röte in die Wangen, oder bilde ich mir das nur ein?
Herr Kersch holt tief Luft: «Wissen Sie, Frau Liewen ist ja auch allein. Ihr Mann ist schon lange tot. Wir haben darüber gesprochen.» «Das hat Ihnen beiden gutgetan?» - «Eigentlich kann man mir ihr über alles sprechen, sie versteht einen einfach», fährt Herr Kersch fort, ohne meine Frage zu beantworten, «sie ist eine sehr liebe Frau.» Ich nicke. «Es ist doch komisch, finden Sie nicht? Ich meine, wir kennen uns ja eigentlich nicht. Und ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste!»
Jetzt endlich wird mir klar, um was es hier geht! «Und jetzt haben Sie ein ganz komisches Gefühl, sagten Sie?» - «Ja.» - Ich gebe mir keine Mühe, mein Lächeln zu unterdrücken. «Aber ist es auch ein bitzeli ein schönes Gefühl?» Herr Kersch lächelt. Jetzt ist die frische Farbe seiner sonst so blassen Haut unverkennbar. «Was meinen Sie, ob so eine Freundschaft in unserem Alter noch erlaubt ist?» - «Möchten Sie diese Frage bei Gelegenheit der Frau Liewen stellen?» Herr Kersch atmet tief und strahlt. «Gut!» Wir nehmen Abschied. Mit leichtem Schritt gehe ich durch die Stationen.
Später am Tag, als ich einen Moment Atem zu holen suche, öffne ich das Fenster weit und atme die Sonne ein. Mein Blick wandert über den blühenden Garten. Bei der Wiese steht Herr Kersch. Die eine Hand am Rollator, mit der anderen pflückt er Gänseblümchen.
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